Jawoll, ich bin Schuld!

Können wir jetzt weitermachen?

Mein Vater hat ein T-Shirt. Und auf dem T-Shirt steht genau das drauf. "Jawoll, ich bin Schuld! - können wir jetzt weitermachen?"

Er trägt es bei den Proben zu seinen großen Musicalprojekten, die er im Großraum Frankfurt als Regisseur, Gesamtleiter und "Chef de Kulissenbau" begleitet. Klar, bei über 120 Menschen, Schauspieler, Tänzer, Sänger, Musiker, Choreographen, Techniker- da kommt gefühlt alle fünf Minuten die Aussage aus irgendeiner Ecke: "Ich kann nichts dafür! Mir wurde das so gesagt!" Oder "Wenn Du Deinen Text könntest- wenn Du nicht ständig Pause machen würdest-  wenn Du einfach mal still wärst bei den Proben- DANN ...!" Was dann? Dann ginge es schneller, dann wären alle glücklicher, dann hätten wir schneller "Aufführungsniveau"- Und dann springt mein Vater a la Foto-Bomb ins Bild und deutet mit zwei Händen auf sein T-Shirt. Und nimmt die ganze Schuld auf sich. Absurd, dachte ich manchmal. Und: Okay, es ist mein Vater. Ich kenne ihn nur so.

 

Wie ist das denn nun im Alltag? Das, mit der Schuldfrage. Wenn irgendetwas nicht ganz so gelaufen ist, wie Du es geplant hattest. Oder wenn es in einer Paarbeziehung häufig, täglich zum Streit kam. Oder wenn die Kinder eine Fünf in Mathe mit nach Hause brachten. Oder wenn der beauftragte Wohnungsnachbar trotz Mülldienst die Altpapiertonne nicht raus gestellt hat?! BOAH, das letzte Beispiel ist hart, oder?

Ich hab mich mal gefragt, was ich genau gefühlt habe, bevor ich früher auf irgendjemanden mit dem Finger gezeigt habe und ihm direkt oder über sie /ihn gesagt habe: WEGEN DIR kommen wir jetzt alle zu spät. Oder WEGEN DIR können wir jetzt alle vier Wochen nix bei Amazon bestellen, weil, kein Platz für Kartonage in der Tonne. Oder WEGEN DIR hat die ganze Sendung im Fernsehkaufhaus heute keinen Spaß gemacht.

Ich finde, dass dieses Schuldthema spannend ist. Denn was war meistens die Konsequenz einer direkten Schuldzuweisung? Uiuiui.

 

Streit, Diskussion, Vorwürfe, das ganze Programm. Auf der einen Seite Rechtfertigung und Schuldzurückwurf, auf der anderen Seite Sturheit, Frust, Ärger,... !

 

Und die indirekten, großzügigen Schuldvergaben "hinterrücks"? Naja, die sind einfacher. Da kommt wenigstens primär nichts zurück. Erst mal. Später entstanden oft Situationen wie:

Der XY hat gesagt, dass Du dem Z gesagt hast, dass ich an dem Tag an allem Schuld war.

 

Auch blöd.

 

Ich habe mich entschieden, nicht einmal mehr zu denken, dass irgendjemand an irgendetwas Schuld haben könnte. Warum? Weil ich endlose Diskussionen nicht leiden kann. Am Ende von Diskussionen stehen Menschen sich oft noch weiter entfremdet gegenüber, als vorher.

 

Im besten Fall denken sie sich: Du hast Recht und ich meine Ruhe! - auch kein befriedigendes Ergebnis.

 

Also: Keine Schuldzuweisung von Miriam mehr. Seit fünf Jahren. Konsequent. Hat mich am Anfang Nerven gekostet - das gebe ich gerne zu. Denn bis mein Gehirn aufgehört hat zu denken: Da konnte ich doch jetzt gar nichts für! - das hat etwas gedauert.

 

Denn für viele Menschen ist es viel einfacher, einen Sündenbock zu finden. Dann sind sie selbst ja raus aus der Nummer. Dann "können sie ja nichts dafür". In meinem Fall war es egal, ob es an dem "Trainer", an meiner Schwester, an meinen Lebensabschnittsgefährten, an meinen Eltern, an der Bundeskanzlerin oder notfalls am Wetter lag - irgendeinen hab ich schon raus gedeutet. Irgendeiner hat hinterlistig mit enormer bösartiger Energie meine güldenen Pläne durchkreuzt.

 

Absichtlich? SCHIMPF UND SCHANDE!

Unabsichtlich? NOCH SCHLIMMER!

 

Vielleicht fragst Du Dich jetzt: Wenn ich aber in einer misslichen Lage Fehler anderer wahrnehme und sie nicht anspreche, dann lernt doch keiner mehr was dazu! Und wenn ich mich über einen Menschen ärgere und es ihm nicht sage, dann weiß er es nicht einmal!!!

 

Ja, stimmt. Und was wäre, wenn ich einfach allen Menschen um mich herum unterstelle, dass sie in ihrer besten Absicht handeln?

Huiiii. Ich weiß, das klingt nach zusammengekniffenen A..backen und "Halte Deine andere Wange auch noch hin" - und ich habe wirklich darüber nachgedacht.

Vielleicht ist es in 90% aller Fälle so, dass die Menschen, die um Dich herum vielleicht ab und an merkwürdig handeln, beste Absichten dabei haben?

 

Autsch?

Ja, das wäre neu. Und mich hat es zum Nochweiterdenken gebracht.

 

Also, davon ausgegangen, die Menschen, denen Du früher "Schuld" an einer misslichen Lage gegeben hättest, hätten aus ihrer Sicht in BESTER Absicht gehandelt - nur mal angenommen, es ist ein reines Gedankenspiel, dann hätten sie keine Schuldzuweisung, sondern viel mehr ein... GENAU! ...Feedback von Dir bekommen. Nämlich sowas wie: Also, ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Ich fühlte mich gestresst, genervt, verletzt, nicht ernst genommen,... was auch immer.

Hast Du den Unterschied bemerkt: Ich bin bei MIR geblieben.

Keine Schuldzuweisung!

Kein: "Wegen DEINES Zeitmanagements sind wir ALLE zu spät gekommen."

Sondern: "Boah, ich hatte eben echt Schweißausbrüche, weil ich es gewohnt bin, 10 Minuten vor Beginn der Oper auf meinem Platz zu sitzen. Für mich war das echt wie Überlebenstraining."

 

Oder der Klassiker: Verkehrsunfall. Da ermittelt ja sogar die Polizei im Zweifel den "Schuldigen". In meiner Welt wissen sowieso meistens die Beteiligten, wer "Schuld" am Unfall hatte. Manchmal geben Menschen ihre Schuld in solchen Fällen ungern zu. Das stimmt. Und es ist vielleicht sogar verständlich. Oft geht es ja um eine Menge Geld. Gerade bei Autounfällen.

Und selbst hier würde ich davon ausgehen, dass der "Schuldige" den Unfall in den meisten Fällen nicht vorsätzlich gebaut hat. Zumindest ist es in meinem Leben noch nicht vorgekommen, dass irgendein Bekannter vor dem Losfahren zu mir sagte: DU, Miri, heute hab ich mal Bock, einem die Vorfahrt zu nehmen und es richtig krachen zu lassen. Wortwörtlich.

Vielleicht hatte der "Schuldige" es eilig, weil er zu spät zur Arbeit unterwegs war und wollte das Meeting noch schaffen oder er war verliebt und mit den Gedanken beim abendlichen Tete a Tete& - ist ja auch im Grunde egal. Ärgerlich ist ein Unfall. Nur, was nutzt die Schuldzuweisung, ausser, dass klar ist, wessen Versicherung den Schaden zahlt?

 

Nochmal zur Oper. Und den teuren Karten. Und den zehn Minuten, die ich gerne vorher auf meinem Platz sitze: Fortgeschrittene bekommen das sogar noch in charmant und witzig hin. Da bin ich dran. Zu spät zur Oper zu kommen, weil der Traummann noch schnell tanken wollte für den Rückweg... aaaaarrrrrgggghhh. Und es geht. Denn der Traummann hat ja in seinem Universum für einen reibungslosen Weg nach Hause gesorgt - huiiii, große Toleranzschwelle bei Miri😉

 

ABER: Es gibt dann eben keinen Streit. Und genau dafür habe ich mich entschieden.

 

By the way: Einen Menschen, der gerne unpünktlich ist und weit über das siebte Lebensjahr hinaus gealtert ist, mit dem würde ich mich dann auch eher IN der Oper verabreden. Wenn er oder sie (wie so häufig) zu spät dran ist, sitz ich eben schon 10 Minuten vor Beginn auf meinem Platz. Dann braucht es gar keine Schuldzuweisung.

 

Und es gäbe noch hundert andere Möglichkeiten, damit umzugehen, dass ich für die Dinge im Leben, die mir wichtig sind, selbst sorge. Dann brauche ich niemandem die Schuld zu geben, dass sie nicht klappen. Denn dann klappen sie ja.

 

Zum Verständnis: Ob unsere Politiker aus Deiner Sicht an allem Möglichen Schuld sind, der Handtaschenräuber am Diebstahl und Petrus am mauen Sommerwetter, ...,  darum geht es mir am Ende nicht. Was ich mache ist: Ich schone meine Energieressourcen. Denn jemandem die Schuld zu geben, bedeutet auch, dass ich mir über etwas Gedanken mache, was mich übellaunig macht. Und übellaunig bin ich ungern!

 

Und wenn wir dabei sind: Ja, während der Proben zum bereits genannten Musical bin ich nicht alleine dafür verantwortlich, dass alles pünktlich und professionell klappt. 120 individuelle Schneeflöckchen tanzen und singen dort drei Monate lang während der Proben und der Tournee umeinander.

 

Was ich ihnen allen unterstellen würde, wäre: Sie ALLE wollen einen Publikumserfolg und viel Spaß, wenn der Vorhang sich öffnet. Und weil einer zu spät in die Probe kam oder bei einer Aufführung nicht zum Warmsingen da war oder weil das Orga-Team vergessen hatte, weiße Servietten für die Foyers zu kaufen, ...  ist doch irgendwie keiner "Schuld" daran, dass mich das gestresst hat.

 

Den Stress darüber habe ICH in MEINEM Gehirn erzeugt, biochemisch. So sieht´s aus. Andere, die das ganze auch erlebt haben, blieben nämlich ganz entspannt. Und haben sich dann über andere Sachen aufgeregt 😉.

 

Rückblickend betrachtet, waren die meisten Schuldzuweisungen in meinem Leben sowieso Peanuts.

 

Und wenn irgendeiner mir die Schuld an etwas gab? Dann hinterfragte ich mit der neuen Einstellung, was ich ändern kann, damit so etwas nicht mehr passiert. Oder was ich gerne aus der Situation lernen wollte. Ich weiß, das Thema ist mal etwas komplexer. Und es ist spannend. Nach wie vor.

 

Ich wünsche Dir (und mir auch gerne noch etwas mehr) die Fähigkeit, auch bei Schuldvergabe-Pro´s gelassen zu bleiben. Und ich weiß auch nicht, wer Schuld hat, dass dieses Irrwitz-Thema hier auf´n Tisch gekommen ist... .

 

Lass es Dir gut gehen und danke für´s Mitdenken.

 

Miri