Ich müsste mal müssen

Ich muss jetzt zur Arbeit.

 

Ich muss zum Zahnarzt.

 

Ich muss mit Dir sprechen.

 

Oder schlicht: Ich muss mal.

 

Das alles sind Sätze, die ich in den vergangenen 40 Jahren vermutlich tausende Male von mir gegeben habe. Ohne darüber nachzudenken. Und weil es für mich total gewohnt war, bestimmte Dinge einfach tun zu MÜSSEN. Unter der Lupe betrachtet (und ich liebe es, unsere deutsche Sprache unter der Lupe zu betrachten!) stellt sich mir unterdessen eine wichtige Frage:

Was in meinem Leben MUSS ich tatsächlich tun? Und was davon will ich, darf ich, möchte ich, kann ich?

Ich für meinen Teil bin zu folgender These gelangt (und bitte diskutiere hier heiß darüber, wenn Du das anders siehst. Es ist so spannend!): Im Leben MÜSSEN wir Menschen eines irgendwann, und das ist mit Anlauf und einem dreckigen Witz auf den Lippen von diesem Planeten hüppen. Bei allem anderen haben wir IMMER eine Wahl. Wir dürfen entscheiden. Natürlich hat unsere Entscheidung Konsequenzen. Und die sollten wir abwägen, da hast Du vollkommen recht.

 

Bleiben wir beim Thema Arbeit. Viele Bekannte von mir sagen immer, wenn sie zur Arbeit gehen oder fahren: "Ich MUSS jetzt arbeiten."

Seit neuesten antworte ich dann: "Nö, musst Du nicht. Du kannst es auch lassen"

Die prompte Antwort darauf ist grundsätzlich: "Und wer zahlt mir dann meine Brötchen?" (Ein Klassiker, übrigens!) Und das genau ist der Punkt. Es gäbe Konsequenzen, wenn Du Dich morgen früh entscheidest, einfach nicht zu Arbeit zu gehen.

 

Für manche wäre das sicher die bessere Entscheidung, weil sie ihren Job hassen und sich in meiner Welt sowieso besser eine andere Tätigkeit suchen würden. Oder von Sozialhilfe leben. Dann zahlt der Staat eben mal für eine Zeit die Brötchen. Wenn das glücklicher machen würde? Warum nicht. (Ich weiß, das polarisiert jetzt, und es ist eine der Möglichkeiten. Punkt.) Für Wahnsinnige wie mich, ist das gar keine Frage. Ich gehe voll gerne zur Arbeit. Im Fernsehkaufhaus ist es jeden Tag anders lustig. Dazu haben sich dort ähnlich verrückte Vögel wie ich an einem Platz versammelt. Ich erfahre großes Verständnis ;-). Und das Moderieren im Fernsehen ist einfach großartig. Zudem bin ich immer wieder glücklich, dass ich Geld dafür bekomme, was ich dort tue und keines bezahle. Deshalb entscheide ich mich jeden Tag mit einem Frühlingsliedlein auf den Lippen, zur Arbeit zu gehen . Ist dann das Wort "MUSS" angemessen?

 

In meinem Fall ist das einfach. Nein. Ich DARF zur Arbeit gehen. Schön, dass es in Deutschland ein Unternehmen gibt, das mich reden und verkaufen lässt. Schön, dass ich damit Geld verdiene. Schön, dass ich unterdessen meine Redefreudigkeit bis zur Exzellenz fortgebildet habe und sogar Trainerin geworden bin. Und wie cool, dass ich mit so vielen Menschen an ihrer sprachlichen Exzellenz arbeiten darf. Seit ich also zu meinen Kindern sage: "Mama darf jetzt zur Arbeit fahren." gibt es kein Gejammer mehr. Früher, als ich MUSS sagte, hingen sie an meinem Bein. Kein Witz. Sie wollten mich kaum gehen lassen. Mit dem"darf" statt "MUSS" sage ich ihnen zwei Dinge:

1. Es ist total erlaubt, dass Mama arbeiten geht (auch für mich ein schönes Gefühl).

2. Arbeiten macht mir Spaß! Ich freu mich darüber, dass ich dorthin fahren darf (und damit lernen meine Kinder: Arbeiten kann Spaß machen. Menschen gehen gerne zur Arbeit.)

 

Im ersten Fall, wenn also der ausgeübte Job nicht gerade das beste vom Ei darstellt und viele Faktoren dazu beitragen, dass Menschen nicht gerne zur Arbeit gehen, ist es auch einfach.

 

Auch diese Menschen dürfen (immer aus meiner Sicht gesehen, nicht vergessen) zur Arbeit gehen und müssen nicht. Sie haben die Wahl. Wenn sie nicht gehen, ja, dann sind sie arbeitslos oder jobsuchend oder frei oder was auch immer. Wenn sie gehen, haben sie in meiner Welt die Entscheidung getroffen. Dann dürfen sie das tun. Sie dürfen mit ihren Fähigkeiten Geld verdienen. Sie dürfen angestellt sein, angesichts der vielen Arbeitssuchenden in Deutschland sicher ein Privileg. Und vielleicht macht dieser Gedanke sogar das eine oder andere an der Arbeit besser. Weil ich mir

 

1. Gedanken mache, ob ich mir parallel zur Arbeit einen neuen Job suche und kündige und dann endlich arbeiten "darf", weil es Spaß macht.

2. Ein "darf" weniger druckvoll ist, weniger Mühe bereitet.

 

Anderes Beispiel. Das stammt wieder von meiner goldigen Schwester, mit der ich SO GERNE über Sprache diskutiere. Und sie ist ein harter Brocken, das kannst Du mir glauben. Sie sagte, beinahe schon etwas sauer über das plötzliche "Darf-Angebot": "Wenn ich einen vereiterten Zahn hab,. muss ich nun mal zum Arzt." 

Nö.

Musst Du nicht. Du lebst wahnsinnigerweise in einem Land, in dem es Zahnärzte gibt, die vereiterte Zähne behandeln. Ob Du sie konsultieren willst, oder nicht, ist Deine Entscheidung. Die Konsequenz, den Zahn weiter vergammeln und vielleicht sogar ausfallen zu lassen, ist ein kurzes Nachdenkerlein wert.

Bei mir war genau dieser Dialog der Anfang vom Abbau schlimmster Angst vorm Zahnarzt. Seit neuestem DARF ich da nämlich hin. Und das fühlt sich schon mal eine ganze Runde besser an, als "ICH MUSS".

Okay, ich hab mir beim endgültigen Liquidieren meiner Hysterie vor Zahnärzten von einem tollen Coach Unterstützung geholt ( <3 ) und wie auch immer- das DARF ist an dieser Stelle eine echte Errungenschaft für mich.

 

Viel einfacher ist der Satz "Ich muss mal mit Dir sprechen."

Nö, ich muss mit niemandem sprechen. Hat Konsequenzen. Vielleicht gute  ;-). Und Fakt ist: Ein Gespräch darf stattfinden. dann finden Menschen gemeinsam eine Lösung. Oder haben Spaß miteinander. Oder erzählen sich wichtige Informationen. Also wieder eine Entscheidung. Niemand zwingt mich. "Ich darf, möchte, würde gerne mit Dir reden" . Das klingt fein. Da höre ich doch gerne zu.

 

Eine Maskenbildnerin, mit der ich genau dieses Thema neulich besprechen durfte, argumentierte weise: "Und wenn ich mal Pipi machen muss, dann muss ich das doch".

 

Guter Einwand. Hier gibt es vielleicht die Wahl, ob auf der Toilette oder im Grünen oder nie wieder etwas trinken (und das wäre albern, da hast Du recht). Im Endeffekt gilt für mich auch hier: Wie schön, dass mein Stoffwechsel so gut funktioniert und mein Körper sich entscheiden hat, Wasser zu lassen.

 

Am Ende des Tages macht ein "MUSS" etwas in meiner Sprache. Es erzeugt Druck. Damit hat es Auswirkungen auf meine Gefühle und auch auf die der anderen, die es vielleicht hören. Ein spannendes Experiment (das ich bereits sehr konsequent durchgeführt habe) wäre von daher für Dich (wenn Du magst): Ersetze einfach für eine Woche jedes MUSS durch ein DARF. Auch, wenn es Dir aufgrund Deiner Sprachgewohnheiten an der einen oder anderen Stelle sonderbar vorkommt. Und beobachte, was es mit Dir und mit anderen macht. Wie andere auf Deine neuen Sätze reagieren. Und wie Du Dich dabei fühlst. Es ist SO WITZIG.

By the way:

Niemand hat mich je gefragt, warum ich das tue. Es ist schlichtweg keinem aufgefallen. Nur haben sich Menschen mir gegenüber plötzlich sehr viel friedlicher und kompromissbereiter verhalten. Das beste Beispiel waren meine Kinder. Als ich zum ersten Mal sagte: "Mama DARF jetzt zur Arbeit." blieb das bis dato übliche Gejaule darüber aus. Der kleine sagte: "Viel Spaß!" Und der große sagte:"Okay. Bis später." Und ich war fast ein bisschen beleidigt, dass der "Abschiedsschmerz" so schnell erledigt war. 🙂


Heute gibt es in meiner Sprache kein MUSS mehr. Das habe ich mir abtrainiert. Ich fühle mich damit entspannter. Dafür fällt mir auf, wie viele Menschen in ihrem Leben so wahnsinnig viel müssen.

In diesem Sinne: Ich darf dann mal meine Spülmaschine ausräumen - toll, dass ich eine habe und ich könnte das Geschirr auch drin lassen und von dort verbrauchen (räusper).

 

Bis bald!

Miri